Sarajevo
Text: AA Sarajevo, die Hauptstadt Bosnien Herzegowinas, erlangte internationale Bekanntheit durch Ereignisse wie das Attentat von Sarajevo im Jahre 1914, die Winterolympiade 1984 und durch die Belagerung von 1992 bis 1996. Toleranz, Offenheit und ethnische Vielfalt sind einerseits Markenzeichen Sarajevos, die die Stadt zum Mikrokosmos Jugoslawiens gemacht haben; andererseits ist die Geschichte der Stadt von kriegerischen Auseinanderetzungen geprägt.
Inhaltsverzeichnis
Sarajevo in der SFRJ
Text: AA
Im Zweiten Weltkrieges wurde Bosnien von deutschen Truppen besetzt und unter die Kontrolle des "Unabhängigen Staat Kroatien" (''Nezavisna Drzava Hrvatska, NDH) unterstellt. Das unwegsame Gelände machte Bosnien Herzegowina zu einem der wichtigsten Operationsgebiete der kommunistischen Partisanenbewegung. Bei Jablanica an der Neretva fand eine der bedeutendsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges statt. In Jajce wurden 1943 die Grundlagen für SFRJ gelegt. Im selben Jahr wurde Vladimir Peric – genannt Valter – Parteisekretär der Stadt und ging Aufgaben im Geheimdienst sowie im Bereich der Anti-Sabotage nach. Valter wurde zur Symbolfigur des Widerstands in Sarajevo und zum Nationalheld Jugoslawiens. Der jugoslawische Partisanenfilm «Valter brani Sarajevo» (Walter verteidigt Sarajevo) war in Jugoslawien äussert populär.
In der Periode des sozialistischen Jugoslawien modernisierte sich die Stadt Sarajevo rapide. Um der Armut nach dem Krieg entgegenzuwirken, wurden die Alphabetisierung und Urbanisierung angekurbelt, welche in der Zwischenkriegszeit ins Stocken geraten waren. Die Einwohnerzahl verdreifachte sich in Sarajevo und die Muslime waren mit einem Anteil von rund 50% die stärkste Bevölkerungsgruppe. Schwerpunkte der Stadtentwicklung waren nach dem Zweiten Weltkrieg die Schaffung von Wohnraum, die Anlage von Kultur-, Wissenschafts- und Freizeiteinrichtungen sowie die Neugestaltung des Regierungs- und Verwaltungssektors. Eine beeindruckende Liste der neuen Institutionen sprach für das erneuerte Stadtbild Sarajevos der unmittelbaren Nachkriegszeit.[1]
Sarajevo als Mikrokosmos Jugoslawiens
Die Bürger aller Glaubensgemeinschaften und Nationalitäten lebten gleichberechtigt und nahmen am Aufbau Bosniens und Jugoslawiens teil. In dieser Phase fiel auch die Anerkennung der Muslime als selbständige Nation, für deren Identität allein die Religion und nicht ihre ethnische Zugehörigkeit entscheiden war. Das Zentrum dieser neuen Nation wurde das an sich multiethnische Sarajevo, welches als kleines Abbild Jugoslawiens bezeichnet wurde, denn nirgends wo war die ethnische Vielfalt und die Multikulturalität so gross. Kirchen, Moscheen und Synagogen lagen und liegen heute noch unweit nebeneinander und wiederspiegeln diese Multikulturalität.
Die Sozialistisch Föderative Republik Jugoslawiens (SFRJ) war eines der beliebtesten Ferienziele in Europa. In Bosnien war vor allem Sarajevo ein bevorzugtes Domizil. Der Wintertourismus war auf Sarajevo konzentriert, wo 1984 zudem die Olympischen Winterspiele stattfanden. Neben dem Tourismus war Sarajevo als Zentrum der Jugo-Rockszene bekannt. Rockbands wie Bijelo Dugme (Weisser Knopf)[2], Zabranjeno Pusenje (Rauchen Verboten)[3] und viele mehr hatten ihren Anfang in Sarajevo.
Sarajevo im bosnischen Bürgerkrieg 1992-1995
Anfangs der 1990er Jahre strebten die einzelnen Republiken ihre Unabhängigkeit an. Die Serben boykottierten die Abstimmung zur Unabhängigkeit Bosnien Herzegowinas, die sie später als Kriegserklärung werteten. Im Jahre 1992 folgte die Unabhängigkeitserklärung Bosnien Herzegowinas, welche von der EU und den USA anerkannt wurde.
Sarajevo wurde während der Belagerung durch die Armee Republika Srpska zwischen 1992 und 1995 weitgehend zerstört. Dabei wurden grosse Teile der historischen Innenstadt und viele Wohngebiete bombardiert. Die aus österreichisch-ungarischen Zeiten stammende Nationalbibliothek wurde durch Artilleriebeschuss vernichtet. Bosnisch-serbische Scharfschützen eröffneten wahllos das Feuer auf Zivilisten und verwandelten eine der Hauptausfallstrassen Sarajevos in die berüchtigte Sniper Alley. Von den Hügeln aus, deren Skigebiete 1984 noch als Austragungsort der Olympischen Winterspiele gedient hatten, wurde Artillerie- und Mörserfeuer auf Gemüsemärkte getragen. Die schlimmste Zeit ist vom Ende des zweiten Halbjahrs 1992 und Anfang des ersten Halbjahrs 1992 datiert: das Leben fand grösstenteils in Kellern statt, die Wirtschaft brach zusammen, das Wasser sowie die Stromversorgung wurde knapp.
Der Osteuropa-Historiker Holm Sundhaussen beschreibt in seinem Werk die Situation folgendermassen: «Höhepunkt bildete der 2.Juli 1993, an dem 3'777 Granateneinschläge gezählt wurden. Sie hinterliessen eine Spur der Verwüstung. Die Strom-, Wasser- und Gasversorgung wurde unterbrochen, der öffentliche Verkehr lahmgelegt, der Hauptbahnhof, das Post- und Telegrafenamt, die Radio- und Fernsehstation, das Verlagsgebäude der Tageszeitung, verschiedene Krankenhäuser, Regierungsgebäude, Militäreinrichtungen, zahlreiche Hotels, die Zwillingshochhäuser sowie weit mehr als 100'000 Wohnungen wurden beschädigt oder zerstört» [4]
Durch die Fertigstellung des Sarajevo-Tunnels 1993, verbesserte sich die Versorgungslage; der Transport von Lebensmitteln, Medikamenten und Waffen wurde ermöglicht. Ohne die Errichtung des Tunnels wäre das Überleben in der Stadt unmöglich gewesen.
Erinnerungskultur Sarajevos
Im letzten Jahrzehnt nahm die Modernisierung Sarajevos stark zu, das Stadtbild wurde nach dem Krieg verändert. Es entstanden moderne Hochhäuser, neue Einkaufszentren und moderne Architekturen. Vielerorts stehen aber immer noch Wohnungen und Objekte, die noch nicht renoviert wurden und deren Einschusslöcher an die Belagerung erinnern. So wird die Präsenz bzw. die Nähe der Kriegshandlungen erkenntlich. Die Roten Rosen Sarajevos zeigen Stellen, wo die Granaten eintrafen. Das Denkmal «Spomenik ubijenoj djeci Sarajeva» (Denkmal für die ermordeten Kinder Sarajevos) im Zentrum Sarajevos steht für die getöteten Kinder während der Belagerung 1992-1996. Das Denkmal wird oft besucht, da häufig Passanten an diesem Park vorbeilaufen. Auch die EinwohnerInnen Sarajevos kritisieren die Absicht des Denkmals positiv, da es durch seine moderne und abstrakte Gestaltung die Gegenwart mit dem Kriegsgeschehen kombiniert.
Die wirtschaftliche, soziale und politische Situation hat sich in Bosnien bzw. Sarajevo aber nicht stark verändert. Eine stark zersplitterte Parteiführung, hohe Arbeitslosigkeit und geringe Löhne sind ein allgegenwärtiges Problem. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Jugo- und Tito-Nostalgie auch in Sarajevo präsent sind. Eine der Hauptstrassen im Zentrum trägt den Namen «Marsala Tita» (Strasse des Marschalls Tito), an welcher sich das sogenannte «Hostel Tito 46» befindet. Hinter dem Historischen Museum Sarajevos gibt es ein «Tito-Café», welches gut besucht ist sowie eine «Rock Bar Johnny», die an die Musik und die Zeit im damaligen Jugoslawien erinnern. Diese Nostalgie steht für die Zeit vor dem Krieg und an das, woran sich die Menschen gerne erinnern. Trotz der beständigen Präsenz der Vergangenheit in vielen Bereichen des Lebens in Bosnien Herzegowina bzw. Sarajevo, gibt es heute wenige Beispiele für gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Die Stadt liegt auf beiden Seiten der bosnischen Entitätengrenze zwischen der Bosniakisch-Kroatischen Föderation und der Republika Srpska. Die Teilung Bosnien Herzegowinas in die Bosniakisch-Kroatische Föderation und die Republika Srpska wird oft kritisiert, unter anderem durch einen der wichtigsten, zeitgenössischen Autoren Bosnien Herzegowinas Nenad Velickovic.
Anmerkungen
- ↑ Holm Sundhaussen, Sarajevo; Die Geschichte einer Stadt, Böhlau Verlag, Wien Köln Weimar, 2014, S. 289; 293 f.
- ↑ http://de.wikipedia.org/wiki/Bijelo_dugme (Stand: 11.11.2014)
- ↑ http://de.wikipedia.org/wiki/Zabranjeno_pu%C5%A1enje (Stand: 11.11.2014)
- ↑ Holm Sundhaussen, Sarajevo; Die Geschichte einer Stadt, Böhlau Verlag, Wien Köln Weimar, 2014. S.327
Literaturliste (Auswahl)
Nenad Velickovic, Logiergäste, Verlag Volk und Welt, 1997.
Holm Sundhaussen, Sarajevo: Die Geschichte einer Stadt, Böhlau Verlag, Wien Köln Weimar. 2014.
Kim Burton, Balkan Beat- Die musikalische Vielfalt im ehelamligen Jugoslawien, in: Weltmusik, hrsg. v. Simon Broughton u. a., Stuattgart, 2000.
Dalibor Misina: Shake, rattle and roll. Yugoslav rock music and the poetics of social critique, Farnham, 2013.
Ante Perkovic: Sedma republika, Pop kultura u YU raspadu, Zagreb, 2011.