Kollektives Gedächtnis
Das kollektive Gedächtnis ist ein stabiles, langzeitiges Gedächtnis einer Gruppe oder Körperschaft welches anhand symbolischer Zeichen oder Praktiken konstruiert wird und über mehrere Generationen hinweg bestehen bleibt.
Inhaltsverzeichnis
Kollektives Gedächtnis
Der Begriff wurde durch den französischen Soziologen und Philosophen Maurice Halbwachs (1877-1945) 1939 in seinem Werk «La mémoire collective» eingeführt.[1] Körperschaften, solche wie Staaten, Religionen oder Vereine, kreieren ein kollektives Gedächtnis und füllen es mit Erinnerungen an für sie bedeutende Ereignisse. Eben solche Körperschaften schaffen sich dadurch eine Identität, sowie ein Gedächtnis, um sich so zu legitimieren.[2] Die Konstruktion geschieht durch memoriale Zeichen, Symbole, Riten oder Orte, die mit Bedeutung aufgeladen werden. Laut Halbwachs wird die Vergangenheit so rekonstruiert, dass sie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelt, dass heisst, es wird an Ereignisse erinnert, welche ein solches Gefühl stärken.[3] Exemplarisch dafür sind die Stafetten anlässlich des Tages der Jugend in Jugoslawien, welche ein Zusammengehörigkeitsgefühl schufen. Das kollektive Gedächtnis bildet die Basis, auf der sich die Individuen dieser Körperschaft bewegen und aus welcher sie handeln. Es kann, im Gegensatz zum individuellen Gedächtnis, jederzeit abgerufen werden, da es in der Gesellschaft durch Erinnerungsorte verankert ist. Der Inhalt bleibt so lange bestehen, bis er durch etwas Neues ersetzt wird.
Das kollektive Gedächtnis ist perspektivisch organisiert und die bildende Körperschaft selektiert die Auswahl von dem, was erinnert, beziehungsweise vergessen wird. An positive Ereignisse, Siege oder an Erfolge, wird einfacher erinnert, als an negative Geschehnisse oder Niederlagen.[4] So beispielsweise wird gerne an die Partisanenkämpfe im Zweiten Weltkrieg erinnert, während die durch die Ustascha verübten Gräueltaten in Jasenovac von der kroatischen Führung lieber verschwiegen wurden. Die Diskussionen über die Schuldzuweisung und Opferzahlen funktionieren heute immer noch schleppend. Das rührt daher, dass die Körperschaften nur selten Momente des Schams oder der Schuld ins Gedächtnis integriert haben, da dies nicht zu einem positiven Selbstbild führt. Werden solche Ereignisse jedoch miteinbezogen, geschieht dies beispielsweise durch Mahnmäler. So steht heute auf dem Gebiet des ehemaligen KZ Jasenovac die Gedenkstätte der Steinernen Blume vom Künstler Bogdan Bogdanović um den Opfern zu gedenken. Mittels alltäglicher Orte, wie den Strassen oder Plätzen, als Beispiel der Ban-Jelačić-Platz erinnert die Körperschaft an vergangene Personen. Aber auch mittels visueller Medien, wie den Filmen, so als ein Beispiel «Valter verteidigt Sarajevo».
Die deutschen Ägyptologen und Kulturwissenschaftler Jan Assmann (*1938) und seine Frau Aleida Assmann (*1968) vertiefen den Begriff des kollektiven Gedächtnisses und unterscheiden weiter kulturelles und kommunikatives Gedächtnis.
Kommunikatives Gedächtnis
Das kommunikative Gedächtnis ist jener Teil des kollektiven Gedächtnisses, welcher auf oraler Kommunikation basiert. Das heisst, das es sich auf mündliche Wiedergabe von Erinnerungen und Erfahrungen einer bestimmten Körperschaft bezieht. Diese sind meist alltagsnah. Es reicht maximal drei Generationen zurück, wo sich ein sogenannter "floating gap" befindet, welcher eine mitschreitende Trennlinie symbolisiert. Schafft es ein Ereignis über diese Trennlinie hinaus in Erinnerung zu bleiben, so wird es ins kulturelle Gedächtnis eingebunden.[5]
Kulturelles Gedächtnis
Das kulturelle Gedächtnis beinhaltet identitätsstiftende Wissensbestände für ein Kollektiv. Im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis ist es alltagsfern, da es Fixpunkte hat welche auf schicksalhafte Ereignisse in der Vergangenheit basieren. Es weist den Weg für die Zukunft, weil das kulturelle Gedächtnis durch Geschehnisse der Vergangenheit verwurzelt und durch diese geprägt wurde. Es besteht seit langer Zeit und verlangt für die Zukunft ein verbindliches und unveränderliches Muster. Es wird zusammengeführt anhand der Schriften, Bilder, Riten oder Topographien. Das Gedächtnis ist nicht wahrheitsorientiert, dass heisst Fakten können verschleiert oder uminterpretiert werden, da das kulturelle Gedächtnis lediglich nach Tatbeständen in der Vergangenheit sucht, welche eine stabilisierende Wirkung auf die Identitätsbildung einer Körperschaft haben. Diese Fakten können nicht objektiv beurteilt werden und lassen keine alternative Auslegung der Geschehnisse zu, da die Mitglieder dieser Körperschaft emotional an diese Ereignisse gebunden sind.[6]
Individuelles Gedächtnis
Das individuelle Gedächtnis ist gefüllt mit den eigenen biographischen Erinnerungen einer Person. Aus diesen Erinnerungen formt sich das Bild der eigenen Identität. Dieses Gedächtnis ist perspektivisch organisiert. Die Erinnerungen lassen sich weder austauschen noch übertragen. Manche Erinnerungen mögen über die Zeit hinweg verblassen oder sie gehen verloren. Auch die Bewertungsperspektive kann sich verändern. Nur ein Teil dieser Erinnerungen können wir willentlich ins Bewusstsein rufen, während andere nur durch einen äusseren Anlass abgerufen werden können oder dritte, welche durch traumatische Ereignisse vollkommen verdrängt werden.[7]
Anmerkungen
- ↑ Halbwachs, Maurice: La mémoire collective. Paris 1950.
- ↑ Ebd.
- ↑ Assmann, Jan: Erinnern, um dazuzugehören. Kulturelles Gedächtnis, Zugehörigkeitsstruktur und normative Vergangenheit. In: Platt, Kristin und Dabag, Mihran (Hrsg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen 1995. S. 51-75.
- ↑ Pethes, Nicolas und Ruchatz, Jens (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek bei Hamburg 2001. S.329-332.
- ↑ Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan und Hölscher Tonio (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988.
- ↑ Ebd.
- ↑ Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. München 2007.
Kuljić, Todor: Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum. Berlin 2010.